Zeit Online – Laura Cwiertnia

Reiche haben viel Einfluss in Deutschland. Doch man weiß fast nichts über sie. Eine Reise zu denen, die sie am besten kennen: Ihren Dienstleistern.

Mitten auf der Insel Sylt, zwischen Dünen und Fischrestaurants, liegt das Reich der Reichen. Klaus-John Weber zeigt auf einen geschwungenen Pfad, gesäumt von hohen Hecken. „Das ist der Hobookenweg“, sagt er, „die teuerste Straße Deutschlands.“ Ein Quadratmeter Land kostet hier mindestens 35.000 Euro.

Weber hat 41 Jahre als Butler auf Sylt gearbeitet. Deshalb weiß er, wie es hinter den Hecken aussieht, die die Bewohner in zwei soziale Klassen aufteilen: Menschen, die zig Millionen Euro für ein Ferienhaus ausgeben, um darin ein paar Wochen im Jahr Urlaub zu machen. Und dann sind da all die Menschen, die morgens vom Festland über den Hindenburgdamm zum Arbeiten auf die Insel pendeln, weil sie sich eine Mietwohnung auf Sylt nicht mehr leisten können.

Jahrhundertelang hat der Abstand zwischen Arm und Reich politische Ideologien geprägt, Kriege und Revolutionen ausgelöst. Gleichzeitig fasziniert das Leben der „Reichen“ die Leute. Millionen Menschen sehen sich im Fernsehen Krönungen und Dokumentationen über Champagnerpartys an. Und manch einer begeht sogar ein Verbrechen, um selbst reich zu werden. Doch die Wut auf die Vermögenden bleibt. Gerade erst hat sie den G20-Gipfel in Hamburg überschattet: Schon einen Tag vor der Veranstaltung fackelten Randalierer acht Porsche ab. Reichtum ist ein politisches Thema. Die SPD hat vor, die „reichen Erben“ stärker zu besteuern, die Linke alle Vermögenden.

Deutschland ist laut OECD das Land mit der dritthöchsten Vermögensungleichheit aller Industrienationen. Während laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Hälfte der Deutschen praktisch gar kein nennenswertes Vermögen besitzt und mancher sogar Schulden hat, gehören den oberen zehn Prozent geschätzt zwei Drittel des gesamten Eigentums. Ein einziges Prozent besitzt demnach sogar ein Drittel aller Immobilien, Sparanlagen, Aktien und Unternehmen.

Während die Armen regelmäßig von Wissenschaftlern durchleuchtet und analysiert werden, tauchen die Reichen in Statistiken selten auf – was auch daran liegt, dass nicht einmal offizielle Zahlen dazu existieren, wie viele es von ihnen in Deutschland gibt. Anders als etwa in den USA oder Spanien sind sie hier nicht amtlich registriert, weil es in Deutschland keine Vermögensteuer gibt.

Forscher streiten sogar darüber, wer hierzulande als „reich“ bezeichnet werden kann: ein Manager, der Hunderttausende im Monat verdient, aber dafür arbeiten muss? Jemand, der eine Million von seiner Tante geerbt hat? Ökonomen vom DIW haben 2016 erstmals den Begriff der „Vermögenselite“ definiert: Dazu zählen Menschen, die mindestens zehn Millionen Euro besitzen. Selbst die „Ärmsten“ von ihnen müssen nicht arbeiten und können sich trotzdem mehr leisten als die meisten anderen Menschen im Land. Und sie haben Macht: zum Beispiel weil ihr Geld in Unternehmen fließt, von denen Arbeitsplätze abhängen.

Und sonst? Reichtumsforscher, die diese Vermögenden anonym befragen wollen, kommen kaum an sie heran. Aber es gibt Menschen, die wissen, wie die Reichen leben, wie sie ihre Kinder erziehen und was ihnen Sorgen bereitet. Es sind Menschen wie Klaus-John Weber. Sie arbeiten als Dienstleister reicher Menschen, als Butler, Rechtsanwälte oder Escort-Damen. Sie hören ihre Auftraggeber reden. Was erfahren sie?

Der Butler

An einem Aprilmorgen dieses Jahres wartet Klaus-John Weber am Bahnhof in Westerland. Wenn Sylt das Klischee des reichen deutschen Urlaubsortes ist, dann erfüllt Weber das Klischee des Dieners: Er trägt Melone und einen langen schwarzen Mantel. Zur Begrüßung lüpft er den Hut, nimmt den Koffer ab, öffnet die Beifahrertür seines Kleinwagens und ruft: „Willkommen auf der Insel, Mylady!“

„Die Reichen bleiben unter sich“

Weber ist 72 Jahre alt. Bis er vor sieben Jahren in Rente ging, erfüllte er als freiberuflicher Butler den Urlaubern spezielle Wünsche. Weber begleitete sie bei Strandspaziergängen oder brachte ihre Hunde zum Tierarzt. So schildert er das. Ob es stimmt, lässt sich nicht nachprüfen. Denn die Namen seiner Arbeitgeber hält Weber geheim. Und ebenso, wie viel Honorar er bekommen hat. Wer heute einen derartigen Service bei einer Butler-Agentur bucht, zahlt dafür bis zu 400 Euro pro Stunde. Fragt man Weber, ob sich seine Kunden verändert hätten, antwortet er:

In den siebziger Jahren schliefen die Vermögenden noch in einfachen Pensionen, ganz egal, wie wohlhabend sie waren. Heute besitzen die Herrschaften überall auf der Welt Immobilien, an der Côte d’Azur, in Miami, hier auf Sylt. Für kleine Reetdachhäuser, die früher 200.000 Mark gekostet haben, bezahlt man heute 17 Millionen Euro. Dass die Anwesen so hochpreisig sind, liegt auch an der Nachbarschaft, denn die kaufen Sie mit. Die Insel Sylt ist in Branchen unterteilt: Hier wohnen die Verleger, dort die Schnapsfabrikanten und ein paar Kilometer weiter die Industriellen. In den Sommerferien laden sie sich gegenseitig auf Partys ein, ihre Kinder spielen miteinander, und manche heiraten später sogar. Wer will schon neben einem Bordellkönig wohnen, wenn er den Zeitschriftenverleger Heinz Bauer haben kann? Dafür bezahlen sie auch gern etwas mehr. Früher haben die Herrschaften nicht so zurückgezogen gelebt. In den siebziger Jahren feierten sie Kostümpartys am Strand. Geändert hat sich das in der RAF-Zeit. Da verbrannten Eltern plötzlich die Fotos ihrer Kinder, und die Jugendlichen durften nur noch in großen Gruppen über die Insel fahren, damit sie nicht entführt werden konnten. Heute haben die meisten zwar keine Angst mehr, bleiben aber trotzdem lieber unter sich. In der Regel sogar in ihrer Vermögensklasse. Da brauchen sie sich keine Sorgen zu machen, dass jemand an ihr Geld will. Viele fürchten sich vor Menschen, die erst den charmanten Liebhaber spielen und sie später mit ihren Geheimnissen erpressen.

Die Dienstleister, die hier von ihren Erfahrungen erzählen, erleben die Vermögenden in sehr unterschiedlichen Situationen: zu Hause, in der Kanzlei, im Klassenzimmer oder im Bett. Doch alle machen dieselbe Beobachtung wie der Butler Klaus-John Weber. Er sagt: „Die Reichen bleiben unter sich.“

Wie gespalten eine Gesellschaft ist, sieht man vor allem daran, ob sich ihre Gruppen im Alltag noch begegnen. In Deutschland hat sich das Wohnen in den vergangenen Jahren drastisch verändert. Ob in den Elbvororten von Hamburg, an den teuren Ufern oberbayerischer Seen oder im Hochtaunus: In manchen Gegenden sind die Immobilienpreise so stark gestiegen, dass dort heute fast nur noch Leute leben, die viel besitzen. Auch in den größeren Städten wohnen Arme und Reiche immer weiter voneinander entfernt. Man kann dies – wie Klaus-John Weber – mit Furcht um Familie, Eigentum, Privatsphäre begründen, oder damit, dass sich die Reichen von der Masse abheben wollen.

Anders als in den USA neigen die meisten Vermögenden in Deutschland nicht dazu, ihren Reichtum öffentlich auszustellen, sie verstecken ihn lieber. Meist leben sie hinter hohen Mauern, und ihre Hofeinfahrten sind besonders lang. Man mag darin die Dezenz des deutschen Reichtums erkennen, den fehlenden Willen zum Protz, aber es zeigt sich darin auch etwas anderes: die Abkehr vom Leben der anderen.

Der Concierge

Knapp tausend Kilometer vom Butler Weber entfernt arbeitet ein Mann, der den Vermögenden Türen öffnet, die den meisten Menschen verschlossen bleiben. Florian Weidenbach ist Chefconcierge im Bayerischen Hof in München, einem der bekanntesten Luxushotels Deutschlands. Ein Doppelzimmer kostet hier bis zu 580 Euro pro Nacht. Das können sich zwar auch Menschen leisten, die nicht extrem reich sind. Doch viele der Superreichen zählen hier zu den Stammgästen.

Warum sie so gern kommen, hat viel mit Florian Weidenbach selbst zu tun. Wenn die Gäste hier übernachten, ist er so etwas wie ihr persönlicher Assistent. Er übernimmt auch Aufgaben, die nichts mit der Hotelübernachtung zu tun haben. „Wenn jemand Karten fürs Champions-League-Spiel will oder einen Privatjet braucht, organisiere ich das für ihn“, sagt er.

„Die meisten wünschen sich ein Girlfriend-Gefühl“

Florian Weidenbach sieht aus wie die moderne Variante des Butlers Klaus-John Weber: Anzug, Krawatte, am Kragen ein kleiner goldener Schlüssel als Anstecknadel. Er ist das Symbol des Weltverbands der Luxusconcierges. Mehrmals im Jahr trifft sich Weidenbach mit Kollegen aus aller Welt und tauscht sich über die Bedürfnisse der Kunden aus. Wenn jemand beurteilen kann, ob sich die Lebenswelt der Reichen verändert hat, dann er.

Wenn ein neuer Mitarbeiter bei uns anfängt, frage ich zuallererst: „Hast du einen Duden zu Hause? Dann streich das Wort ›Nein‹ heraus!“ Ich versuche, den Kunden jeden Wunsch zu erfüllen. Einmal wollte einer zu einem ausverkauften Wu-Tang-Clan-Konzert, da habe ich die ganze Stadt durchtelefoniert. Ein anderes Mal wollte jemand an Heiligabend Ferrari fahren, da habe ich ein Autohaus gefunden, das ihm da noch einen verkauft. Ich bin der Meinung, dass mein Job auch immer wichtiger wird. Während die Dienstleistungen bei Hotels mit zwei oder drei Sternen weniger werden, legen unsere Gäste mehr und mehr Wert auf individuellen Service. Vor allem für die junge Generation ist es selbstverständlich, dass es alle erdenklichen Dienstleistungen gibt.

Dass sich die Wünsche ihrer Kunden verändert haben, erzählen viele Dienstleister. Der leitende Mitarbeiter eines großen deutschen Autoherstellers, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Ein klassischer Sportwagen gilt vielen Superreichen heute nicht mehr als ein Golf. Diese Kunden überzeugt man nur noch mit Einzigartigkeit, sie kaufen fast nur Limited Editions.“

Weltweit, auch in Deutschland, entstehen neuerdings Agenturen für Edel-Concierges, 24-Stunden-Nannys oder höchstpersönliche Reiseagenten. Selbst die Dating-App Tinder gibt es als Edelversion – eine Kontaktbörse für Reiche.

Während einerseits immer mehr Deutsche Geld, Aufwand und Energie sparen, über Online-Portale nach Billigflügen suchen und per App ihre Wohnungen, Autos und Nahrungsmittel teilen, scheint das Leben der Vermögenden immer kostbarer und exklusiver zu werden. Woran liegt das?

Die Escort-Dame

Eine Frau, die in der Zeitung nicht mit Namen genannt werden will, arbeitet für die Agentur Billionaires Escort und trifft sich ein- bis zweimal im Monat für Geld mit Männern. Drei Stunden mit ihr kosten 1.300 Euro, eine ganze Nacht 2.300 Euro. Sie erfährt viel Persönliches über die Männer, die sich solche Honorare leisten können und wollen – und nebenbei auch etwas über deren Verhältnis zur Realität.

An einem Sommertag sitzt die 34-Jährige in einem Eiscafé auf der Düsseldorfer Königsallee und sieht aus, als besäße sie selbst viel Geld: Sie trägt eine Bluse von Prada, Ohrringe aus Gold und eine Rolex-Uhr. Sie verkleidet sich oft, das gehört zum Geschäft. Ein paar Stunden lang tut sie so, als gehöre sie zur Welt der Reichen. Sie geht mit ihren Kunden shoppen, in exklusiven Restaurants essen und später in die Suite eines teuren Hotels. Manchmal spielt sie in der Öffentlichkeit die Assistentin, meist gibt sie sich als die Freundin aus. Findet sie einen Kunden nicht attraktiv, geht sie trotzdem mit ihm aufs Zimmer und tut so, als ob.

Sie sagt:

Bis jetzt hat mich nur einer von den Jungs als Dienstleisterin behandelt, er war sehr ruppig und hat mir schon in der Lobby an den Busen gefasst. Die meisten wünschen sich ein Girlfriend-Gefühl. Manche verstehen aber nicht, dass ich mich nicht in sie verliebe. Sie versuchen, meine private Handynummer herauszubekommen, und wollen mich ohne die Agentur treffen. Dabei bin ich ja zu ihnen nur so nett, weil sie mich dafür bezahlen. Ich höre weg, wenn mich etwas stört. Manche geben vorher Wünsche zu meiner Kleidung ab, selbst bei der Unterwäsche ist ihnen wichtig, dass ich Markenware trage. Viele vergessen dabei, dass ich nicht aus ihrer Welt komme. Einer hat mir mal ein 700 Euro teures Halstuch geschenkt. Für mich war das irre viel Geld, für ihn ein kleines Mitbringsel. Ich lebe ja dank des Nebenjobs nicht schlecht. Aber manche verstehen einfach nicht, dass ich mir nicht mal eben eine Birkin Bag für 8.000 Euro leisten kann. Und wenn ich ihnen erzähle, dass ich in meinem normalen Job nur 1.300 Euro im Monat verdiene, sind sie oft geschockt.

Wenn die Escort-Dame eine Analyse der Reichen schreiben sollte, dann klänge ihre These wohl wie eine Diagnose: Realitätsverlust. Tatsächlich existieren in Deutschland heute verschiedene Realitäten nebeneinander. Die Reichen scheinen sich in ihrer Wirklichkeit von den anderen sozialen Schichten weiter zu entfernen. Wie kommt das?

„Viele realisieren nicht, was außerhalb ihrer Welt der Standard ist“

Die Lehrerin

Nicht weit vom Bodensee entfernt, umgeben von Weinbergen, liegt Deutschlands bekanntestes Elite-Internat Schloss Salem. 36.000 Euro Schulgeld im Jahr plus rund 250 Euro Unterhalt im Monat zahlen Eltern, damit ihre Kinder hier zur Schule gehen dürfen. Durch einen Torbogen, vorbei an einer Wächterin, gelangt man aufs Schlossgelände. So stellt man sich ein Internat nach der Lektüre von Harry Potter vor: Im Schlossgarten blühen Rosen, zwischen Bäumen schweben Hängematten.

Im Erdgeschoss liegt das Büro von Dagmar Berger, die seit 36 Jahren als Lehrerin in Salem tätig ist. Als Aufnahmechefin lernt sie jeden Neuankömmling kennen, bevor er eingeschult wird, und führt Gespräche mit den Eltern. Nicht alle sind reich. In Salem leben heute auch Kinder aus wohlhabenden Akademikerfamilien, einige sind Stipendiaten. Und weil die Schüler sozial gemischt sind, erkennt Dagmar Berger die Unterschiede.

Ich habe das Gefühl, vermögenden Schülern fällt es heute schwerer als früher, zu akzeptieren, dass wir hier ein Leben auf normalem Niveau führen. Die Regeln sind: Immer drei oder vier müssen sich ein Zimmer teilen, alle müssen den Küchendienst übernehmen, und jeder bekommt alle zwei Wochen bis zu 50 Euro Taschengeld, je nach Alter. Schon früher bekamen manche noch Schwarzgeld obendrauf, aber heute haben die meisten sogar eine Kreditkarte. Mein Eindruck ist: Die sehr Vermögenden, die sich das Geld selbst hart erarbeitet haben, halten ihre Kinder kürzer als andere Reiche. Wenn es um die Zimmerverteilung geht, sind sie zum Teil sehr bescheiden. Es gibt aber auch Schüler, die in ein Nest hineingeboren wurden und sich nie Gedanken um Not machen mussten. Die einfach nach Paris fliegen, um sich dort drei verschiedene Abschlussball-Kleider schneidern zu lassen, oder die zum Abitur einen Sportwagen vors Schloss gestellt bekommen. Sind sie schlecht in Englisch, dann schicken ihre Eltern sie zum Feriensprachkurs nach London oder bestellen einen Privatlehrer. Und auch die Praktikumsplätze bekommen sie über Kontakte.

Wird ein Mensch reich geboren, vererben seine Eltern ihm auch soziales Kapital. Neben dem Kontostand ist es vor allem das, was die Schicht der Vermögenden heute von anderen sozialen Klassen trennt. So machte die amerikanische Soziologin Elizabeth Currid-Halkett diese Beobachtung: „Früher konntest du ökonomisch arm sein, aber ein sozial reicher Bohemien. Oder ein ungebildeter Neureicher.“ Heute sei das anders. „Die Reichen gehen an die teuersten Unis, sie leben im Ausland und spielen Geige.“ In den USA gäben die Reichen so viel Geld für Schulen und Universitäten aus, dass die unteren Schichten gar nicht mehr mithalten könnten. In Deutschland ist das Studieren zwar viel günstiger als in Amerika, doch auch hier werden arme und reiche Kinder unterschiedlich gefördert.

Schon der Franzose Pierre Bourdieu, Sohn eines Postangestellten und einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, ging davon aus, dass vor allem der „Habitus“ soziale Schichten trennt. Kinder von Reichen sprächen anders, träten anders auf, trieben andere Sportarten und pflegten einen großzügigeren Lebensstil. Die Vermögenden haben nicht nur ein anderes Leben. Sie entwickeln auch eine eigene Kultur. Und einen eigenen Blick auf die Welt. Die Lehrerin sagt:

Manchmal glaube ich, viele der wohlhabenden Schüler nehmen gar nicht wahr, wie hart ihre Großeltern arbeiten mussten, um das Vermögen aufzubauen. Immer das neueste iPad und Urlaub im eigenen Ferienhaus, das ist für manche Schüler normal. Bei mündlichen Prüfungen fällt mir das auf. Einmal ging es um den Durchschnittslohn, da dachte ich: Das ist einfach nicht deren Realität. Einige unserer Schüler helfen zwar sehr engagiert im Flüchtlingsheim oder anderen sozialen Einrichtungen. Dort lernen sie ganz andere Umstände kennen. Aber ich glaube, viele realisieren nicht, was außerhalb ihrer Welt der Standard ist.

Wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, lässt sich weitaus schwerer erforschen als Wohnlage oder Schulqualität. Umfragen in Großbritannien zeigen, dass viele Spitzenverdiener keine Vorstellung mehr von der tatsächlichen Armutsgrenze in ihrem Land haben. Gleiches gilt für den Durchschnittslohn. In den Jahren 2011 und 2012 befragte der Soziologe Michael Hartmann von der TU Darmstadt gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin Unternehmenschefs nach ihrem Blick auf die Gesellschaft. Während die meisten Arbeiterkinder, die es bis nach oben geschafft hatten, die Gesellschaft als ungerecht empfanden, erschien sie den meisten Chefs aus wohlhabendem Elternhaus als gerecht.

Sehr unterschiedlich dachten diese Unternehmenschefs auch über die Ursachen der Finanzkrise im Jahr 2008: Die Mehrheit der Befragten aus Arbeiterfamilien gab den Banken die Schuld. Diejenigen aus großbürgerlichen Familien sahen sie hingegen beim Staat und seinen Schulden. „Viele Reiche engagieren sich dafür, die Armut zu bekämpfen“, sagt Branko Milanović, der als Ökonom der Weltbank mehr als 30 Jahre zu Ungleichheit forschte. „Mehr Gleichheit wollen die meisten Reichen aber nicht.“

Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurden 2017 erstmals Hochvermögende zu ihren Einstellungen befragt. Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Es fällt aber auf: 99 Prozent der Befragten waren der Ansicht, bereits genug an den Staat abzugeben. Statt Steuern zu zahlen, würden sie lieber spenden und selbst bestimmen, wer von ihrem Geld profitiert. Kann es sein, dass das Verhältnis der Vermögenden zum Staat gestört ist?

„Viele Leute glauben, Geld löse alle Probleme“

Der Anwalt

Am Eingang eines Büros in der Münchner Innenstadt öffnet sich eine schwere Holztür. Sie führt in eine Welt, zu der die meisten Menschen keinen Zutritt haben: in die Kanzlei Pöllath & Partners, spezialisiert auf Private Equity, auf das Vermögen von Privatpersonen. „Reich“ bedeutet in dieser Kanzlei: ab 100 Millionen Euro aufwärts. Aber „reich“ ist ein Wort, das in diesen Räumen nicht fällt. Es hat in Deutschland einen negativen Klang, zumindest in den Ohren der Vermögenden. Sie mögen es nicht, so bezeichnet zu werden. Als wohlhabend möchten sie gelten, das gilt als sozial verträglicher.

In einem Konferenzraum mit verspiegelten Lampen sitzt Stefan Viskorf. Auch er verrät nur Kundennamen, die schon öffentlich bekannt sind, wie den der Verlegerfamilie Bertelsmann oder des Einzelhandelsunternehmens Tchibo. Welche Beziehung seine Kunden zu ihrem Geld haben – kaum einer weiß das so genau wie Viskorf. Sein Job ist es, ihr Vermögen zu schützen. Er berät die Klienten bei Investitionen, überprüft ihre Steuererklärungen, schreibt ihre Testamente, Ehe- und Erbverträge. „Für manche bin ich auch der Kummerkasten“, sagt er. Sehr viele Leute, mit denen sie wirklich ganz offen reden können, hätten die meisten Wohlhabenden ja nicht.

Viele Leute glauben, Geld löse alle Probleme. Oft habe ich nach einem Telefongespräch mit meinen Mandanten aber das Gefühl: Geld macht auch nicht glücklich. Natürlich sind nicht alle gleich. Aber die Vermögenden haben Probleme, über die man normalerweise nie nachdenkt: Es gibt Kinder, die sich zurückgesetzt fühlen, weil ein anderer Geschäftsführer wird. Geschwister, die sich bis aufs Blut streiten, weil einer den besseren Dienstwagen fährt oder mehr über die Geschäfte weiß. Wenn es um ihr Geld geht, hegen viele Vermögende in Deutschland inzwischen ein dynastisches Denken. Das ist wie mit besonderen Uhren, bei denen sie sagen: Die bewahre ich für die nächste Generation auf. Für die meisten meiner Mandanten ist ihr Vermögen das, was für andere Omas Häuschen ist. Sie versuchen alles, um es zu schützen vor Gläubigern. Damit sie keine Begehrlichkeiten wecken, erzählen manche nicht einmal ihrem eigenen Nachwuchs, wie viel sie wirklich besitzen. Andere sagen: Das gehört uns gar nicht, wir verwalten es für die Familie. Und in die Testamente schreiben wir grundsätzlich, dass die Kinder erst ab dem 27. Lebensjahr Zugriff auf das Erbe bekommen sollen.

Dass die Vermögenden ein anderes Leben führen als die meisten anderen Menschen, hat auch damit zu tun, dass sie andere Probleme haben als der Durchschnitt. Stefan Viskorf findet die Begründung auf einer Namensliste, die er vor sich auf den Konferenztisch legt. Es ist ein Ranking des manager magazins mit dem geschätzten Vermögen der 500 reichsten Deutschen. Viele, die hier aufgelistet sind, verbindet man mit bekannten Produkten: Kühne, Schaeffler, Porsche. „Fast alle Reichen in Deutschland sind Familienunternehmer“, sagt Viskorf.

In den USA ist neuerdings die Rede von den working rich, einer Plutokratie, die durch Jobs bei IT-Unternehmen oder Hedgefonds zu Geld gekommen ist. In Deutschland verhält es sich anders. Zwar gibt es auch hier Spitzenmanager oder Fußballspieler, die viele Millionen Euro im Jahr verdienen, die Zahl der Einkommensmillionäre steigt seit Jahren. Aber so vermögend wie Viskorfs Kunden kann man als Angestellter in Deutschland kaum werden. Diejenigen, die hierzulande mehr als zweistellige Millionenvermögen haben, sind fast alle Unternehmer – oder aber: deren Erben.

Die meisten großen Unternehmen in Deutschland haben eine lange Tradition. Manche gibt es seit dem 17. Jahrhundert, viele von ihnen wurden bald nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Doch seit den 1980er Jahren kamen nur noch wenige bedeutende Firmen dazu. Wenn nicht gerade eine neue Branche entsteht, gelangt auf die Liste des manager magazins heute so schnell kein Gründer mehr. Nach ganz oben zu kommen ist schwerer geworden.

Der Weg nach unten aber auch. Während in den USA seit dem 19. Jahrhundert viele Menschen einen großen Teil ihres Reichtums vor ihrem Tod spenden, bleibt er in Deutschland meist in der Familie. „Wie der Reichtum in Deutschland weitergegeben wird, erinnert an eine feudale Struktur“, sagt Jens Beckert vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Wer reich geboren ist, bleibt meist auch reich. „Das liegt auch an der deutschen Erbschaftsteuer“, sagt Beckert.

Während Privatvermögen ab einer Million Euro auch im engsten Familienkreis versteuert werden muss, blieb Betriebsvermögen in den letzten Jahren praktisch steuerfrei, wenn der Erbe die Nachfolge im Unternehmen antrat. Dieses Gesetz musste die Bundesregierung 2016 – dazu aufgefordert vom Bundesverfassungsgericht – überarbeiten. Viel hat sich allerdings nicht geändert. Auch in Zukunft dürfte es vermögenden Unternehmern daher gelingen, ihr Erbe steuerfrei weiterzugeben. Vor dem Gerichtsurteil, so Beckert, hätten viele Reiche allerdings gefürchtet, die Gesetze könnten verschärft werden. „Da bekamen 300 Minderjährige plötzlich im Schnitt zwischen 300 und 400 Millionen Euro geschenkt.“

Was dieses Vermögen mit den Erben macht, das erlebt der Anwalt Viskorf Tag für Tag.

Unterschiede zwischen Armen und Reichen hat es schon immer in Deutschland gegeben

Oft kommen die Eltern zu mir und erzählen mir von ihren Sorgen um die Kinder. Natürlich gibt es auch positive Beispiele. Manche Kinder gehen auf tolle Schulen, absolvieren anspruchsvolle Wirtschaftsstudiengänge im Ausland, aber dann kommen einigen Eltern doch Zweifel, ob sie mit ihrer Persönlichkeit dazu geeignet sind, die Nachfolge im Unternehmen anzutreten. Auf vielen Kindern lastet ein enormer Erfolgsdruck – weil sie selbst sehr ehrgeizig sind oder weil die Eltern das von ihnen erwarten. Wenn es um ihre Rolle in der Familie geht, sind viele Erben sehr sensibel. Sie wissen nicht, wie sie sich neben ihren Eltern und Großeltern definieren sollen. Deshalb machen nicht wenige etwas ganz anderes, werden Künstler oder handeln mit Antiquitäten. Denn sie wissen: Sie können niemals das erreichen, was ihre Großeltern und Eltern aufgebaut haben. Manche werden in Positionen gedrängt, die nicht zu ihnen passen. Andere versuchen, sich krampfhaft zu beweisen: Mit etwas Spielgeld von den Eltern beteiligen sie sich an Start-ups oder gründen selbst ein Unternehmen, teilweise auch sehr erfolgreich. Wieder andere sagen: Wieso soll ich überhaupt arbeiten? Sie fliegen nach New York, machen Party oder spielen Golf. Es sind nicht alle Familien unglücklich. Aber es ist ein ganz großes Glück, wenn man das Vermögen in die nächste Generation bekommt, ohne dass es zu irgendwelchen Verletzungen oder Dramen führt. Wenn die Eltern sagen können: Mensch, mit den Kindern kannst du abends noch ein Bier trinken, ohne dass irgendwelche Spannungen in der Luft liegen.

Wie jemand mit dem Geld umgeht, das er besitzt, hängt von seiner Persönlichkeit ab. Ob jemand sparsam ist oder großzügig, lässt sich nicht verallgemeinern. Doch es macht einen Unterschied, ob man sein Geld selbst erarbeitet hat oder schon reich zur Welt kommt. Werden Kinder in eine Parallelwelt hineingeboren, die mit dem Leben all der anderen Kinder wenig zu tun hat, verändert das ihren Bezug zu Geld und ihre Beziehung zu den normalen Bürgern.

Unternehmer wird man in der Regel mit einer guten Idee – erfolgreich allerdings erst durch Fleiß, Mut und dadurch, dass man für die Idee kämpft. Wer ein Vermögen von ganz unten aufgebaut hat, erinnert sich noch daran wie sein Leben ohne das Geld aussah. Welches Risiko er eingehen musste, was er opfern musste. Die Kinder der Unternehmensgründer haben diese Unsicherheit teilweise noch miterlebt. Viele wurden im Geiste der Eltern erzogen und halfen, das Unternehmen mit aufzubauen. Doch spätestens in der dritten Generation ist der Reichtum „normal“, ebenso sind es die Privilegien, die mit ihm einhergehen. Die Erbengeneration lebt also nicht nur in einer anderen Welt als ihre Altersgenossen. Sie lebt auch in einer anderen Welt als ihre Vorfahren.

In jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche Realitäten, auch die Meinungen unterscheiden sich. Doch wie die Reichen die Welt sehen, ist besonders relevant. Sie haben mehr Macht als andere.

Viele der befragten Dienstleister betonen, dass sich die Vermögenden sehr für die Gesellschaft engagieren. Der Butler erzählt: „Auf Partys und Empfängen werden auch Politiker eingeladen, amtierende und ehemalige Ministerpräsidenten.“ Der Anwalt sagt: „Viele Familienunternehmer sagen ja, dass sie bei einer Vermögensabgabe das Land verlassen werden. Ich denke aber, viele wollen gar nicht weg. Hier sind sie verwurzelt und sehr angesehen.“

Wer sich die Forschungsergebnisse des DIW und anderer Institute anschaut, der stößt auf einen Widerspruch: Reiche in Deutschland sind als Familienunternehmer in ihrer Region verhaftet. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite misstrauen sie dem Staat, der Stadt, dem Landkreis. Auch deswegen betreibt der Verband der Familienunternehmen seit Jahren erfolgreich Lobbyarbeit gegen eine höhere Erbschaftsteuer. Seine Mitglieder wollen sich nicht gängeln lassen von der Gesellschaft, die sie umgibt, der sie sich aber oft fern fühlen. Sich selbst trauen sie meist mehr zu als dem Staat.

Dietmar Hopp ist das Paradebeispiel für einen erfolgreichen und gesellschaftlich engagierten Unternehmer. Er ist einer der Gründer des Softwarekonzerns SAP und ein bekannter Mäzen des Fußballvereins TSG 1899 Hoffenheim, er hat eine der größten privaten Stiftungen Europas ins Leben gerufen, die Bildungs- und Sportprojekte genauso unterstützt wie medizinische Forschung. Über Hopp kann man bedenkenlos sagen: Er macht sich verdient um die Gesellschaft, in der er lebt. Man kann über ihn aber genauso bedenkenlos sagen: Er macht die Gesellschaft, die er fördert, abhängig von seinem Wohlwollen.

Geld und soziales Kapital bieten den Vermögenden neue Möglichkeiten. Sie beeinflussen die Gesellschaft. Als Sponsoren bezahlen einige von ihnen Hörsäle in Universitäten, sie unterstützen Museen oder spendieren Schulen neue Kantinen. Manche Kommunen sind inzwischen auf ihre Unterstützung angewiesen. Die Vermögenden zahlen zwar kaum Steuer, bestimmen aber mit, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Man könnte sagen: Statt ein gleichwertiges Mitglied des Staates zu sein, werden manche von ihnen zu regionalen Fürsten.

Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer von der Uni Osnabrück fand heraus: Reiche haben mehr politische Macht in Deutschland als andere. Sie nehmen mehr Einfluss auf die Gesellschaft, deshalb richtet sich die Politik stärker nach ihren Wünschen.

Unterschiede zwischen Armen und Reichen hat es schon immer in Deutschland gegeben. Sie lassen sich so rasch auch nicht auflösen. Die entscheidende Frage bleibt aber: Was verbindet die Reichen mit dem Rest der Gesellschaft?

Wenn es stimmt, was die Dienstleister und Wissenschaftler berichten, dann zählen die meisten deutschen Reichen zwar nicht zu einer globalisierten Elite, die sich während ausgelassener Partynächte auf Dachterrassen in New York oder Shanghai mit Kokain berauscht. Viel repräsentativer ist hierzulande der reiche Maschinenbauunternehmer aus Schwäbisch Gmünd, der seinen Urlaub hinter hohen Hecken auf Sylt verbringt und sich fragt, wie er sein Geld vor dem Staat retten kann, um damit die Gesellschaft nach eigenen Wünschen zu gestalten. Eine Gesellschaft, von der er allerdings immer weniger mitbekommt. Und von deren übrigen Bürgern er sich abschottet – im Reich der Reichen.

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